Bindungsangst – Die Angst vor Autonomieverlust und vor der Hingabe
„Wenn es ernst wird, haue ich ab.“, sagen viele Menschen, die an einer Bindungsphobie leiden. Oder wie der Sänger Robbie Williams in seinem Lied „Feel“ sang: „Before I fall in love, I´m preparing to leave her.“
Betroffene sehnen sich zwar nach Nähe und Zuwendung und eine Beziehung - auch in Form einer langjährigen Partnerschaft oder Ehe mit Kindern - kann bei Bindungsängsten durchaus zugelassen werden. Zwischenmenschliche Beziehungen, die natürlicherweise mit Nähe und Verbindlichkeit verbunden sind, bleiben im Falle der Bindungsangst jedoch stets ambivalent und Distanz wird auf unterschiedliche Art und Weise gewahrt.
Flucht, Angriff und Totstellreflex
Sobald der Wunsch nach Verbundenheit und Geborgenheit in Erfüllung gegangen ist, ziehen sich Betroffene zurück in Form von Flucht, Angriff oder Totstellen. Die Flucht kann sich darin zeigen, keine feste Beziehung einzugehen, sondern es bleibt dann beim Flirt oder einer Affäre. Oder die Nähe wird auf verschiedenste Art und Weise vermieden. So flüchten bindungsängstliche Menschen zum Beispiel in ihre Arbeit oder Hobbies, werden untreu oder brechen die Beziehung abrupt und unvorhersehbar ab.
Nicht selten werden tiefere Gespräche über Gefühle vermieden oder ganz verweigert, da sie Stress auslösen. Eine oft unbewusste Abwehrstrategie ist auch, einen Streit vom Zaun zu brechen, sobald die menschlichen Schwächen und Fehler des Partners ersichtlich werden. Dann wird dem anderen unterschwellig oder offen immer wieder das Gefühl vermittelt, er/sie sei nicht gut genug. Dies ist verbunden mit dem Gedanken, dass ein anderer Partner vielleicht besser wäre. Und so treten nach einer Anfangsphase immer wieder Zweifel am Partner und der Beziehung auf.
Beim Totstellreflex kann der Bindungsängstliche zwar physisch noch präsent sein, er ist aber emotional nicht mehr verfügbar und erreichbar. Bindungsphobiker beschreiben, es wäre, als ob sich ein Schalter umlegte und die Gefühle für den anderen plötzlich nicht mehr vorhanden seien. Bindungsängstliche Partner verhalten sich zuweilen distanziert und ablehnend, können sich oft aber gleichzeitig auch nicht trennen.
Die Angst vor Bindung und Nähe ist den meisten bindungsängstlichen Menschen nicht bewusst. Sie erleben eher ein diffuses Gefühl von Bedrängung und die Befürchtung, sich zu sehr einschränken und verpflichten zu müssen. Es wird ein hoher Freiheitsdrang erlebt, hinter dem auf tieferer Ebene jedoch ein schmerzlicher Wunsch nach Verbundenheit steckt.
Erfahrungen mit den ersten Bindungspersonen
Die Angst vor emotionaler Nähe ist in der Regel mit einem mangelnden Vertrauen und mit Kindheitserlebnissen verbunden, in denen sich das Kind verlassen fühlte (insbesondere in den ersten zwei Lebensjahren) sowie mit der Erfahrung, dass Liebe an Bedingungen geknüpft ist.
Ein Säugling, Kleinkind oder heranwachsendes Kind erlebt Gefühle der Verlassenheit und Unverbindlichkeit (zum Beispiel durch Schreinen lassen, nicht eingehen auf die Bedürfnisse des Kindes, innerlicher Abkehr der Eltern, Verlust eines Elternteils, Wochenbettdepression der Mutter uvm.) als existentiell bedrohlich, da es auf die Fürsorge der Bezugsperson angewiesen ist. Diese Gefühle von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein werden in das Unterbewusstsein verdrängt und durch den Abwehrmechanismus „Ich brauche eigentlich niemanden“ in Schach gehalten.
Oder/und das Kind musste sich oft auch auf eine entsprechende Art und Weise verhalten, wurde vereinnahmt oder sollte bestimmte Leistungen erbringen. Unbewusst werden Beziehungen, die natürlicherweise mit Erwartungen beim anderen einhergehen, mit Bedrohungen für die eigene Person in Verbindung gebracht. Bindungsängstliche haben oft auch bei angemessenen an sie gestellten Forderungen das Gefühl, ihr Ich aufgeben und sich verteidigen zu müssen.
Wird echte Nähe und Intimität dann in späteren Beziehungen erlebt, trägt dies für Betroffene enormes Stresspotential. Denn die Verbindlichkeit und Zugneigung wollen auf der einen Seite zwar zugelassen werden, sind aber gekoppelt mit einem tiefen und in der Regel unbewussten Empfinden, es nicht überleben zu können, verlassen zu werden.
Für Bindungsängstliche ist die Bereitschaft erforderlich, sich in einem professionellen Rahmen mit den Ursprüngen ihrer Angst vor Nähe auseinanderzusetzen und dabei auch behutsam und Schritt für Schritt den als bedrohlich empfundenen Kindheitserfahrungen zu begegnen, um sie zu heilen.
Auswirkungen von Näheangst auf den Partner
Oft entstehen aus Bindungsangst narzisstische Verhaltensweisen. Bindungphobiker handeln vermehrt egozentrisch, übermäßig selbstbezogen, abwertend und treten des Öfteren in selbsterhöhender Weise auf, um eigene Unsicherheiten zu verbergen.
Die Frage, ob die Beziehung eine Zukunft hat, bleibt fast immer. Und so ist es für betroffene Partner eine große Herausforderung und Anstrengung mit einem bindungsphobischen Partner in einer Beziehung zu bleiben. Die Rollen, ob der eine flüchtet oder hinterherrennt, können dabei innerhalb einer Partnerschaft oder zwischen verschiedenen Partnerschaften wechseln.
Menschen, die sich auf eine Beziehung mit einem bindungsängstlichen Menschen einlassen, haben selbst oft das Bindungsproblem einer so genannten „passiven Bindungsängstlichkeit“. Sie erleben die Distanz des Partners als emotionale Achterbahnfahrt, lassen sich vieles gefallen und erfahren starken emotionalen Kontrollverlust, der sich dann in klammern, klagen, drohen oder toben ausdrücken kann. Sie wollen den anderen unbedingt halten und es fällt ihnen schwer, sich aus der Beziehung zu lösen. (siehe auch Verlustangst). Je mehr jedoch versucht wird, den anderen einzufangen und zu binden, desto mehr distanziert sich wiederum der „aktiv bindungsängstliche“ Partner.
Wichtig ist, dass beide Partner wahrnehmen, dass sie ein Problem mit Bindung haben, das verständliche Ursachen hat. Beide müssen bereit und willig sein, negative Episoden ihrer eigenen Geschichte zu heilen. Andernfalls kann die Beziehung auszehrend bleiben und führt nicht in eine zufriedene Partnerschaft auf Augenhöhe. Vielmehr ergibt sich in vielen Fällen ein klassischer Teufelskreis aus Wut und Kränkungen.
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