Was sind die Ursachen von Depressionen?
Es gibt zahlreiche Theorien über die Ursprünge von Depressionen. Biochemische Prozesse im Gehirn (ein Mangel an Serotonin), genetisch bedingte Verletzlichkeit sowie ein Auseinanderklaffen der Wahrnehmung von sich selbst und eines Idealbilds von sich sind Erklärungsmodelle, die für die Komplexität einer Depression allein nicht ausreichend sind. Sinnvoller ist es, sich darüber hinaus individuelle Konstellationen von belastenden Lebensereignissen und Beziehungen anzuschauen.
Ursprünge in der eigenen Geschichte
Viele Menschen, die sich in depressiven Episoden wiederfinden, haben in ihrer Kindheit und Jugend die Erfahrung gemacht, eigene Interessen und Bedürfnisse zurückstellen zu müssen, um nicht in Konflikt mit den Bezugspersonen zu geraten. Viele erlebten Abwertung und Beschämung, Gefühle von zum Teil großer Hilflosigkeit und Unzulänglichkeit, fühlten sich zu sehr vereinnahmt oder auf sich allein vor unlösbare Aufgaben gestellt und sahen sich so immer wieder oder dauerhaft in einer unterlegenen Position. Siehe dazu auch Verletzendes Verhalten von Bezugspersonen und Parentifizierte Kinder.
Die Betroffenen haben in der Kindheit und Jugend eventuell Grenzüberschreitungen erlebt und konnten wenig oder keinerlei Einfluss auf belastende Gegebenheiten ausüben. Viele oder jegliche Versuche, die Dinge zu verändern, führten ins Leere. Oft fehlten oder brachen Bezugspersonen weg, die Halt und Orientierung geboten haben. Viele Personen fanden sich immer wieder in für sie überfordernden Situationen wieder, in denen sie sich verunsichert, traurig und verärgert fühlten, mit eigenen Gefühlen aber allein und verlassen, oft auch unverstanden und ungewürdigt waren.
Wenn wir diesen Gegebenheiten über lange Zeit ausgesetzt sind, bilden wir unbewusst die Gewissheit, durch unser Handeln weder die eigene emotionale Befindlichkeit noch die Umwelt positiv verändern zu können. Je häufiger und heftiger diese Erfahrungen in der Kindheit gemacht wurden, desto mehr manifestierten sich unbewusste negative Glaubenssätze, zum Beispiel „Ich bin hilflos.“, „Ich bin wertlos.“, die dazu führen, dass wir uns als defizitär, die Welt als feindlich und destruktiv wahrnehmen und die Zukunft als nicht veränderbar und negativ ansehen.
Unterdrückte Wut und Aggression
Bezeichnend ist, dass bei vielen Menschen, die an einer Depression erkrankt sind, unterschwellig viel Wut und Aggression und durchaus große Durchsetzungskraft vorhanden sind. Diese Gefühle wurden aus Angst vor Liebesentzug und Ablehnung bereits früh zurückgestellt und durften nicht ausgelebt werden, weil sie von den Bezugspersonen nicht erwünscht waren, als unangemessen angesehen wurden oder das Kind aus verschiedenen Gründen das Empfinden hatte, eigene Gefühle zurückstellen zu müssen.
Oftmals gab es Erfahrungen, in denen das Kind oder der Jugendliche in Wettbewerbssituationen den Kürzeren zog. Als Folge davon wurde Auseinandersetzungen aus dem Weg gegangen, die für die Selbstbehauptung und Selbstwirksamkeit natürlich und wichtig sind.
Sind wir mit negativen Gefühlen und Situationen konfrontiert, aber damit überfordert, dann verdrängen wir sie als Selbstschutz ins Unterbewusstsein oder spalten sie ganz ab (siehe auch Abgespaltene Gefühle und Persönlichkeitsanteile). Die verdrängten und abgespaltenen Gefühle oder Anteile drängen jedoch in späteren Lebensphasen ins Bewusstsein. Und zwar dann, wenn wir uns in Situationen wiederfinden, in denen wir bewusst oder unbewusst an schmerzhafte Situationen und Gefühle der Kindheit und Jugend erinnert werden.
Bleiben die Gefühle weiterhin unverarbeitet und investiert der Mensch immer wieder in Beziehungen und Umstände, die für ihn keine positiven Resultate bringen, dann reagieren der Körper und die Psyche mit Symptomen einer Depression. Dabei richten sich die negativen Emotionen gegen die eigene Person und äußern sich beispielsweise in Selbstvorwürfen, Selbstanklagen und Selbstzweifeln, wie „Ich bin selbst schuld.“, „Ich kann nichts.“ „Ich schaffe es nicht.“.
Verletzendes Verhalten von Bezugspersonen
Kinder nehmen bewusst und unbewusst sehr fein wahr, wenn sie eigene Bedürfnisse und Wünsche zurückstellen müssen. Das kann passieren, wenn sich Bezugspersonen nicht in angemessener Weise ihrer Rolle entsprechend verhalten:3
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Überforderte, bedürftige, hilflose Bezugspersonen, psychische oder körperliche Erkrankung eines Elternteils, Suizid eines Elternteils, abwesende Väter oder Mütter, das Kind wurde als Partnerersatz benutzt (siehe auch Parentifizierte Kinder)
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Eine Bezugsperson tyranisiert immer wieder offen oder indirekt damit, die Familie zu verlassen (Beziehungsabbruch) und ist nur durch Wohlverhalten der anderen Familienmitglieder zu halten.
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Wenn eigene Wünsche oder Bedürfnisse ausgelebt werden wollten oder der Versuch bestand, sich abzugrenzen, wurde mit Liebesentzug oder Beziehungsabbruch gedroht. Liebesentzug zeigt sich auch darin, tagelang nicht mit dem Kind zu sprechen, wenn es
nicht den Erwartungen entspricht.
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Leistungen wurden als selbstverständlich angesehen oder abgewertet. Das Kind wurde wenig bestätigt oder nur dann, wenn es etwas für andere tat. Selbstwertgefühl und Selbstachtung konnten sich nicht gesund entfalten. In späteren Lebensphasen wird der Selbstwert bei Menschen mit Tendenz zu depressiven Phasen oft dadurch generiert, sich als nützlich und den Erwartungen anderer entsprechend zu verhalten.
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Alkoholismus und finanzielle Probleme: Zum Wohle der Familiengemeinschaft wurden eigene Bedürfnisse und Gefühle zurückgestellt und unterdrückt, um das Auseinanderbrechen der Familie zu verhindern.
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Die Bezugspersonen manipulierten das Kind, in dem sie ihm ein schlechtes Gewissen gemacht oder Schuldgefühle provoziert haben, um ein entsprechendes Verhalten des Kindes zu erreichen.
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Früher Verlust von Bezugspersonen: durch Weggeben des Kindes, Tod einer Bezugsperson, längere Krankenhausaufenthalte, Scheidung der Eltern
Das innere Fundament und individuelle Resilienz
Wenn das innere Fundament in der Kindheit Risse und Brüche erlitten hat, kann der Mensch in seinem weiteren Leben vermehrt an Personen und in Situationen geraten, die für ihn verletzend und einschränkend sind. Das sind Partner, Freunde, Lehrer, Situationen im Beruflichen und Privaten. Verletzungen und negative Gefühle werden als langfristige Folge auch von Generation zu Generation weitergegeben, entweder durch Übertragung und Projektionen von Gefühlen oder durch verletzenden Umgang mit den eigenen Kindern. Siehe dazu auch „Langfristige Folgen eines verminderten Selbstwerts“.
Bei allen Erfahrungen ist für das Auftreten einer Depression in späteren Lebensphasen entscheidend, wie die Erlebnisse individuell erlebt und gewertet wurden. Die genannten Auflistungen führen nicht zwangsläufig in die Depression. Dies und auch der Schweregrad der depressiven Phasen sind abhängig davon, wie viel positive und gute Erlebnisse sowie liebevolle vertrauenswerte Anteile der Bezugspersonen und andere wohlwollende Menschen neben den negativen Gegebenheiten vorhanden waren.
Ein entscheidender Faktor ist auch die individuelle Resilienz, das heißt die wesensbedingte Widerstandsfähigkeit eines Menschen. Gleichzeitig gibt es derart ungünstige und ungesunde Konstellationen im Berufs- und Privatleben, in denen auch überaus widerstandsfähige Menschen in eine Depression rutschen. In jedem individuellen Fall macht die Dosis negativer Erfahrungen und Gefühle das Gift.