Neben den hier aufgeführten Varianten gibt es noch zahlreiche andere Möglichkeiten und Kombinationen von Selbstschutz. Die Auflistung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll Programme verdeutlichen, die klassisch bei Selbstwertproblemen sind.1
Abwehrprogramm: Sich anpassen und nach Harmonie streben
Es wird versucht, Erwartungen anderer Menschen gerecht zu werden und sich anzupassen, anstatt eigene Wege zu gehen, in extremer Form bis zur Selbstaufgabe. Menschen mit Tendenz zu diesem Programm sagen oft nicht direkt, was sie fühlen, denken oder wollen. Vor allem nicht, wenn sie vermuten, damit auf Widerstand zu stoßen. Gleichzeitig herrscht oft die stumme Erwartungshaltung, die anderen müssten doch wissen, dass bereits eine Grenze überschritten ist.
Diesem Programmtyp fällt es oft schwer, persönliche Wünsche zu definieren, weil die eigenen Bedürfnisse vor anderen zurückgestellt werden. Dies birgt langfristig die Gefahr, an einer Depression zu erkranken.
Gefühlsmuster: Gefühl, sich anpassen zu müssen, nicht zu genügen, unterlegen zu sein, lieb und artig sein zu müssen.
Typische Anzeichen:
- eigene Wünsche und Gefühle unterdrücken (darunter vor allem auch die eigene Wut und Aggression darüber, dass sie es sich eigentlich ganz anders wünschen)
- wenig bis gar keine Grenzen setzen
- daraus resultierend passiv-aggressives Verhalten (stumme Verweigerung, stummer Widerstand, beleidigter Rückzug, Schweigen)
- sich klein machen
- Selbstvorwürfe, Selbstanklagen, Selbstbestrafung
- die eigene Meinung der Meinung anderer unterordnen
- unterwürfiges Verhalten
- jammern, klagen
- konfliktscheu
- nicht loslassen können
- übermäßiges Streben nach tiefer Verbundenheit, Verschmelzung mit anderen
- Ja-Sager
Menschen, die tendenziell eher zu diesem Programm neigen, sind oft einfühlsam und freundlich. Sie brauchen und wünschen (tiefen) Kontakt mit Menschen. Sie sind in der Regel beständige und loyale Teamplayer und haben zum Teil ausgeprägte Fähigkeiten, sich tief in ihre Mitmenschen einzufühlen und die Bedürfnisse des anderen zu erspüren. Das macht sie zu fantastischen Menschenkennern.
Eng verbunden mit diesem Programm ist auch das Helfersyndrom. Menschen dieses Typs neigen dazu, ihren Einfluss auf den anderen zu überschätzen, sich an Menschen zu binden und an ihnen zu verausgaben, denen sie nicht helfen können, beispielsweise weil der andere keine eigene Verantwortung übernimmt und an seiner Lage selbst nichts ändern will.
Abwehrprogramm: Nach Perfektion und Kontrolle streben
Es gibt immer ein Höher, Schneller, Weiter, Besser. Neben dem Beruf werden auch Besitz, Partner- und Freundschaften sowie Hobbies dazu genutzt, den Selbstwert zu erhöhen. Bei diesem Programm besteht die Neigung, sich zu verausgaben und zu erschöpfen. Fehler geschehen ungern und werden zum Teil stark bei sich und anderen abgewertet. Es gelten hohe Ansprüche an sich und die Umwelt. Leider können die eigenen Erfolge und auch die Leistungen der Mitmenschen oft nicht wertgeschätzt und gewürdigt werden.
Gefühlsmuster: Gefühl, nicht zu genügen, nicht vertrauen zu können, alles im Griff haben zu müssen, wertlos zu sein, ausgeliefert zu sein, keine Fehler machen zu dürfen, schlecht zu sein, nichts zu taugen.
Typische Anzeichen:
- Präzision im Arbeiten und Handeln
- funktionieren
- ungeduldig und unduldsam
- Optimierungsdrang bei sich selbst sowie bei Partnern und Freunden
- eigene Erfolge und Leistungen bei sich und anderen nicht wertschätzen können
- penibel
- Selbstkritik und Kritik an anderen
- Furcht vor Neuem und Unvertrautem
- hohe Erwartungen und Forderungen an das Leben
- festgelegte und festlegen wollende Meinung
- Denken in Regeln und Gesetzen (worunter kreatives, lebendiges und lebensnahes Denken leidet)
- nachtragend
- einengendes Auftreten und begrenzendes Denken
- Probleme damit, Aufgaben zu delegieren
- misstrauisch
- Hang zum Grübeln bis Grübelzwang (es muss eine Lösung gefunden werden)
- Schwierigkeiten, die Dinge geschehen und dem Fluss zu überlassen
Menschen mit Tendenz zu diesem Programm sind oft willensstark und ausdauernd. Sie handeln verlässlich, konsequent und lösungsorientiert. Sie können großen Halt und Führung geben. Dieser Typ ist oft verantwortungsbewusst, (selbst-)diszipliniert, beherrscht, korrekt und steht zu seiner Meinung. Ausgeprägt können auch die Fähigkeiten im Organisieren und Planen sein.
Abwehrprogramm: Angriff und Gegenangriff
Bei vermeintlicher oder tatsächlicher Kritik (auch bei konstruktiver) erfolgen schnell Gegenangriffe und Rechtfertigungen. Viele objektive Aussagen anderer werden als persönlicher Angriff gewertet. Dadurch können sich innerlich Spannung, Aggression und Wut stauen, die sich dann mehr oder weniger unkontrolliert entladen. Menschen dieses Typs fehlt es in unreifer Form oft an Bewusstheit und Einsicht für eigenes Fehlverhalten. Sie agieren in diesem Fall rücksichtlos, dominant und übermäßig selbstbezogen.
Gefühlsmuster: Gefühl unterlegen zu sein, sich nicht abgrenzen zu dürfen, zu kurz zu kommen, nicht wichtig zu sein, nicht vertrauen zu können.
Typische Anzeichen:
- unangemessene Rebellion
- plötzliche verletzende Schärfe
- sich unnahbar machen
- sich über andere erhöhen
- übermäßig Grenzen setzen
- überhebliches, erhabenes, arrogantes Auftreten
- belehren, besserwissen
- beurteilen von oben herab
- Meinungen, Sichtweisen anderer abwerten, den ganzen Menschen abwerten
- Schroffheit
- sich übermäßig beschweren
- schnelles Umschlagen von Zuwendung in feindselige Ablehnung
- zynische Bemerkungen
- sich für stärker, lässiger, lockerer geben, als man tatsächlich ist
- egozentrisches, egomanisches Auftreten
- überhöhte Erwartungshaltungen und Forderungen
- Querulanten
- übermäßiges Streben nach Abgrenzung und Autonomie
- Nein-Sager
Menschen mit dieser Tendenz haben häufig eine hohe intellektuelle Wachheit, einen scharfen Verstand. Sie sind oft mehr rational und sachlich veranlagt als emotional. Zwischen Verstand und Gefühl, also zwischen Rationalität und Emotionalität, kann ein großer Unterschied im Reifegrad bestehen. Ist ihr Gefühlsleben nicht verarmt, sondern scheu zurückgehalten, dann sind sie im Grunde sehr differenzierte und sensible Menschen. Ist dieser Programmtyp egozentrisch, lebt und betont er die selbstbewahrenden Seiten und wertet primär danach, was ihm/ihr angemessen ist.
Abwehrprogramm: Nach Macht streben
Es findet ein aktiver oder passiver Widerstand statt, um in zwischenmenschlichen Beziehungen die Oberhand zu behalten und die eigene Macht zu demonstrieren. Bei diesem Programm werden die Mitmenschen unbewusst als überlegen und dominant wahrgenommen.
Gefühlsmuster: Gefühl ausgeliefert zu sein, ohnmächtig zu sein, sich nicht wehren zu können, nicht zu genügen, keine Fehler machen zu dürfen, nicht vertrauen zu können, alles im Griff haben zu müssen, zu kurz zu kommen.
Aktiver Widerstand
- Angriff und Attacke
- Beharren auf dem eigenen Recht
- immer wieder in den Streit gehen
- schreien, schlagen
- alles muss nach dem eigenen Willen laufen
- forderndes Verhalten (auch mehr fordern, als man selbst gibt)
- Auf- und Gegenrechnen von Gefälligkeiten
- pseudointellektuelle Analysen
Passiver Widerstand
- gekränktes Schweigen*
- stur und kompromisslos sein eigenes Ding durchziehen
- trödeln
- große und kleine Sabotageakte
- stumme Verweigerung
- Zusagen nicht einhalten oder extrem langsam umsetzen
- mauern
- sexuelle Lustlosigkeit
- unterschwellige Manipulation
- Kooperationsverweigerung
*Bei vielen zwischenmenschlichen Problemen werden durch Schweigen oft keine Lösungen gefunden und es kann zu endgültigen oder jahrelangen Kontaktabbrüchen kommen. Schweigen demonstriert dem anderen, wie verletzt man ist und gleichzeitig, dass man es nicht mehr für nötig hält, noch in Gespräche zu gehen. Schweigen ist gleichzeitig eine Kränkung und Gekränktsein. Beim Menschen, der gekränkt schweigt, wird dadurch leider verhindert, dass Missmut und Trauer gut verarbeitet werden und dass natürliche zwischenmenschliche Probleme geklärt werden können. Viele Auseinandersetzungen werden dadurch extrem verkompliziert und unlösbar gemacht. Der gekränkt Schweigende beraubt sich damit jeglicher Chance auf Veränderung und Versöhnung in zwischenmenschlichen Kontakten.2
Machtmenschen sind an sich robuste Naturelle. Sie wehren sich und bieten ihrem Gegenüber die Stirn. Für ihre Mitmenschen sind sie allerdings oft anstrengend. Typen mit ausgeprägtem Hang zu aktivem Wiederstand können in gewalttätiger Form auf andere beängstigend wirken, Gefühle von Hilflosigkeit entfachen oder große Gegenaggressionen auslösen.
Menschen, die zu passivem Widerstand neigen, können ihre Mitmenschen extrem wütend machen. Der andere fühlt sich durch diese Verhaltensweisen hilflos, weil es vordergründig keinen Konflikt zu geben scheint und der Widerständler aus der Kommunikation geht. Es kann passieren, dass dann das Gegenüber plötzlich als „der Schuldige“ dasteht, weil dieser, sich der Manipulation bewusst, ab einem gewissen Zeitpunkt in hilflosem Ärger explodiert. Sowohl beim passiven als auch beim aktiven Widerstand werden dem Gegenüber Ohnmachtsgefühle zugefügt, die eigentlich bei sich selbst verhindert werden sollen.
Bei allen Selbstschutzstrategien besteht bei einer dauerhaften überhöhten Ausprägung die Gefahr für Depressionen sowie Burnout