Vom ewigen Opfer – Warum Menschen in der Opferrolle verharren

Der Prozess der innerlichen Versöhnung braucht Zeit, durchläuft verschiedene Phasen und ist mit persönlichen Reifeprozessen verbunden. Dabei gehören neben Gefühlen von Trauer und Schmerz auch Ärger und Wut auf andere Menschen sowie das Gefühl der Hilflosigkeit dazu. Nicht selten besteht der Wunsch, das Umfeld und die anderen mögen sich verändern. Einige Menschen überwinden diese Phase nicht und verbleiben dauerhaft, zum Teil ein Leben lang, in der Position des Opfers. In diesen Fällen werden auf unbewusster Ebene jegliche Veränderungsansätze blockiert. Und das hat für den Menschen zunächst verschiedene Vorteile.

Hinweis: Das Folgende klammert Ereignisse, wie Übergriffe und Gewalt jeder Art an kleinen Kindern, Gewalt innerhalb eines politischen Systems sowie Überfälle und Bedrohungen durch jegliche Art von Waffen aus. Psychopatische und ungehemmt gewalttätige Aktionen sind in Bezug auf diesen Text ausgenommen und bedürfen einer separaten Sichtweise.

In der Praxis gibt es immer mal wieder Anfragen von Menschen, die bereits über Jahre hinweg viele verschiedene Therapien ausprobiert haben, aber dauerhaft hat sich in Bezug auf ein und dieselbe Thematik nichts grundlegend geändert. Auffällig bei diesem „Therapeuten-Hopping“ ist das beständige Jammern, Klagen und sich beschweren über die Umstände und die Mitmenschen, auch über die vorherigen Therapeuten, die alle keine wirkliche Hilfe waren. Auffällig dabei ist, dass diese Menschen die Verantwortung für das eigene Leben an Dritte abgeben (den Partner, die Kinder, den Therapeuten, die Umstände), wobei sie sich selbst permanent als Opfer sehen.

Nun ist die Rolle des Opfers auf den ersten Blick mit Vorteilen verbunden:

  • Opfer zu sein schafft Identität: Die Identifikation mit einem schweren Schicksal schafft eine Identität von „Ich bin derjenige, der viel Leid und Schmerz erfahren und ertragen hat. Das verleiht mir Einmaligkeit, damit habe ich etwas geleistet, das ist etwas, das mich ausmacht!“ Es ist dabei unabhängig, was konkret erlebt wurde. Das Erfahrene Schicht für Schicht zu verarbeiten und dann endgültig loszulassen bringt dann die Frage mit sich: „Wer bin ich ohne diesen Schmerz? Was macht mich sonst noch aus?“
  • Wer Opfer ist, erfährt für sein Leiden Aufmerksamkeit: Mit dem Opferstatus ist die Chance verbunden, das Leid und erfahrene Ungerechtigkeiten immer wieder preiszugeben oder gar zur Schau zu stellen. Eine Zeit lang kann der Mensch dafür durchaus Mitgefühl und Zuwendung, auch Anerkennung erfahren.
  • Opferidentität entfacht in anderen Hilfsbereitschaft: Menschen, die ihre Opferidentität beibehalten, ziehen immer wieder andere Menschen an, die Hilfestellung geben möchten und sich im weiteren Verlauf der Beziehung für sie verantwortlich fühlen. Nicht selten sind das Personen mit Helfersyndrom, die für diese Menschen die Führung übernehmen und Probleme aus dem Weg räumen. Dadurch braucht die Person, die im Opferstatus verharrt, nicht selbst aktiv zu werden.
  • Wer im Opferstatus bleibt, kann Macht über den Täter gewinnen: Wer sich unablässig über die Menschen beschwert, die einen verletzt haben und das Fehlverhalten anderer anklagt, hält dem Täter immer wieder seine Tat vor, beschämt ihn vor anderen und gewinnt dadurch Macht über ihn. Wer nicht verzeiht, hat die Fäden in der Hand. Unversöhnlichkeit kann dementsprechend auch einen Revanche- und Racheakt darstellen.
  • Oper sein bringt moralische Überlegenheit mit sich: Auch die moralische Überlegenheit gegenüber dem Täter ist eine Form von Macht, die aufgegeben werden müsste, wenn man Vergangenes loslässt.

Das Verharren im Opferstatus kann einerseits aus erlernter Hilflosigkeit rühren. Beispielsweise haben diese Personen durch überbehütende, entwertende oder überängstliche Bezugspersonen kaum Selbstwirksamkeit erfahren und erleben sich vor diesem Hintergrund als handlungsunfähig. Diese Hintergründe können in der Regel therapeutisch gut behandelt werden.
Allerdings können dahinter auch Vermeidungsverhalten sowie überhöhte Erwartungen, Forderungen und Ansprüche an andere Menschen stehen. Der Grundstein dafür wird häufig bereits in der Kindheit gelegt. Zum Beispiel dadurch, dass Eltern ihrem Kind offen oder indirekt vermitteln, dass das Kind ein übermäßiges Recht darauf hätte, dass ihm erhöhte Aufmerksamkeit zukommt oder darauf, dass die Umstände seinen Wünschen entsprechend gestaltet sind. Tritt das realistischerweise nicht immer ein, entwickelt sich eine sogenannte Frustrationsintoleranz. Diese entsteht ebenso dadurch, dass Eltern dem Kind das Gefühl geben, es sei im Vergleich zu anderen etwas Besseres. In diesem Fall werden die Eigenschaften und Leistungen des Kindes von den Eltern grundsätzlich und unhinterfragt überhöht. Gleichzeitig spiegeln die Mitmenschen dem Kind, dass es niemand Außergewöhnliches ist.

Langfristig sind mit dem Opferstatus keine Vorteile verbunden, denn Zuwendung und Mitgefühl wandeln sich bei den Mitmenschen auf Dauer in Mitleid, Ungeduld und Ablehnung. Die Mitmenschen können sich emotional erpresst und durch ein schlechtes Gewissen manipuliert fühlen. Eine gleichwertige und verständnisvolle Beziehung wird dadurch unmöglich. Bei der Person, die sich latent als Opfer sieht, wird wiederum durch innerlichen Groll verhindert, zufrieden und unbeschwert zu sein.

Sich aus der Position des Opfers heraus zu bewegen, bedeutet Arbeit mit der eigenen Geschichte. Bei der Auseinandersetzung damit geht es darum, aus der Perspektive des Erwachsenen auf das eigene Leben zu blicken, Selbstmitgefühl (nicht Selbstmitleid!) zu entwickeln und sich die Fragen zu stellen: „Was habe ich nicht bekommen, das ich zu einem bestimmten Zeitpunkt gebraucht hätte? Was ist stattdessen mit mir geschehen?“

Durch eine ehrliche Rückschau und tiefgehende Verarbeitung seelischer Verletzungen ist es möglich, den Opferstatus aufzugeben. Innerlich versöhnt zu sein birgt dann die Stärke in sich, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen. Zufrieden, neugierig und kreativ zu sein und in angemessener Form selbstverantwortlich dafür zu sorgen, dass ähnliche neue Verletzungen nicht mehr passieren.

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